St. Galler Tagblatt – Till Bastian


[ redi ad Echo ]


St. Galler Tagblatt, 19.4.2000, S. 20, Buch im Gespräch

Jesus nur eine Kopie?

«Wissenschaftlichkeit» als blosse Maskerade: Francesco Carottas «War Jesus Caesar?»

TILL BASTIAN

Der Mensch empfindet offenbar ein Unbehagen an der eigenen Geschichte. Deshalb findet er immer wieder Gefallen an der Idee, selbige Geschichte müsse «von Grund auf neu» geschrieben werden. Jedenfalls kauft und liest er gerne Bücher, in denen Ähnliches behauptet wird.

Das erfundene Mittelalter

Die Aufregung um das Jahr 2000 beispielsweise wäre es nach den Thesen des Münchener Amateurhistorikers Heribert Illig erspart geblieben. Dieser nämlich attestierte in einem vielgelesenen Buch («Das erfundene Mittelalter», München 1996) dem europäischen Geschichts- und Selbstverständnis ein Malheur besonderer Art: Es beruhe auf einer schlichten Fälschung. Kaiser und Päpste des 12. und 13. Jahrhunderts hätten das sogenannte Frühmittelalter schlicht erfunden und diese Konstruktion durch Fälschungen abgesichert. Das Jahr 2000 der gängigen Zeitrechnung sei nach Abzug dieser «erfundenen» Lücke das Jahr 1702 nach der Zeitenwende.
Im Ansatz ganz ähnlich verfährt ein Buch, das der Münchner Goldmann-Verlag veröffentlicht hat: «War Jesus Cäsar?» fragt der Autor – und der Untertitei deutet an, dass seine Antwort an Eindeutigkeit nicht zu wünschen übrig läßt: «2000 Jahre Anbetung einer Kopie».

Zugespitzt, aber interessant

Trotz dieser schrillen Töne bietet Carottas dickleibiges Buch auch für kritische Leser manche Uberraschung. Die wichtigste: Es ist durchaus lesenswert – und zwar auch dann, wenn man der zwecks Verkaufsförderung übermässig zugespitzten These ganz und gar nicht folgen mag (wie auch der Rezensent). Carottas zentrale Frage möchte ich in seinen eigenen Worten wiedergeben: «Es ist nicht normal, dass der Kult des Divus lulius, der ursprüngliche römische Reichskult, sich plötzlich in Luft auflöst, sobald das Christenturn auftaucht. Es ist nicht normal, dass keine einzige Legende von Caesar überliefert wurde, einem Mann, der nicht weniger als Alexander die Phantasie seiner Zeitgenossen erregte. Es ist genausowenig normal, daß Jesus, der Auctor des Christentums, des späten römischen Christentums, plötzlich erscheint und Divus Julius verdrängt, unbemerkt von allen früheren Historikern. Es ist nicht normal, dass so viele Legenden von Jesus überliefert worden sind, einem Mann, der die Phantasie seiner Zeitgenossen so wenig erregt hat, dass hundert Jahre nach seiner angeblichen Geburt immer noch keine Zeile über ihn in den Geschichtsbüchern stand.»
Dieser Befund ist treffend in Worte gefasst, er wirft in der Tat viele Fragen auf – und dass Carotta sich ihnen mit Spekulationslust und Fabulierfreude widmet, kann nicht beanstandet werden.

«Beide sind komplementär»

Francesco Carottas Antwort lautet: «Man muß feststellen, dass beide Gestalten komplementär sind und daß sie nur zusammen die komplette Person eines Gottmenschen darstellen.»

Hochinteressante Fakten …

Das ist nun wirklich weit gegriffen, und selbstredend kann Carotfa diese These – trotz aller zum Teil hochinteressanten Fakten, die er emsig zusammenträgt – nicht beweisen. Vermutlich weiss er das sehr genau: «Am Anfang war der Jokus» – mit diesem ersten Satz des Vorwortes beginnt sein Buch. Carotta lässt, trotz allem Bemühen, die Frage völlig unerörtert, wie denn eine solche Ineinssetzung konkret möglich hätte werden können.
Immerhin stellt der Autor «erstaunliche Ubereinstimmungen zwischen den Berichten fest, die in der Antike über den einen und den anderen umliefen» – so die Würzburger Archäologieprofessorin Erika Simon in einem kurzen, vorsichtigen Nachwort. Dass aus der Aura Caesars vieles an Einzelheiten, zum Teil verblüffend, in die sich formende Jesus-Verehrung übergegangen ist, bis in die Evangelien-Texte hinein, dafür liefert Carotta in der Tat viele, zum Teil sehr überzeugende Hinweise.
Aber, um noch einmal das Nachwort von Frau Simon zu zitieren: «Eine andere Frage ist, ob sich mit den hier aufgewiesenen Ähnlichkeiten zwischen Caesar und Jesus die Historizität des letzteren bestreiten lässt.»

… unzureichende Antwort

Hierzu gibt Carotta – naheliegenderweise – keine überzeugende Auskunft; seine (gewiss verkaufsfördernden) Thesen sind nicht nur unzureichend begründet sondern bleiben – trotz 372 Seiten Text – seltsam nebulös. Damit ist auch eine Schwachstelle des Buches markiert: Carotta ist peinlich und penibel um etwas bemübt, was er für Wissenschaftlichkeit hält – dazu gehören rund 150 Seiten mit Anmerkungen, die zum Teil seitenlang griechische Texte zitieren, dazu gebören weitschweifige Exkurse über die Darstellungen auf römischen Münzen, die möglicherweise für Spezialisten von Interesse sind, zur Begründung von Carottas zentralen Thesen aber überhaupt nichts beitragen.

Kritische Reflexion fehlt

Das zentrale wissenschaftliche Problem, nämlich wie – mit welchen Mitteln und Methoden – eine derart gravierende These wie jene, die auf dem Cover von Carottas Buch zu lesen ist, überhaupt begründet werden könnte, also die kritische Reflexion über Status und Reichweite von Carottas Aussagen, fehlt völlig. Seine Art von «Wissenschaftlichkeit» ist eine bloße Maskerade (vielleicht eine solche, hinter der Gott Jokus steckt?). Doch trotz dieser Schlagseite bleibt das Buch, jedenfalls in seinen besten Teilen, amüsant und anregend – und somit lesenswert.

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NOTA BENE: Manchen Einwänden muß man nicht unbedingt antworten – so wenn der Rezensent sagt: „Seine […] Thesen sind nicht nur unzureichend begründet sondern bleiben – trotz 372 Seiten Text – seltsam nebulös“. Andere Rezensenten und Kommentatoren finden sie im Gegenteil „sehr stichhaltig“ (s. Rezensionen und Forum, passim). Es ist eine Frage des Gesichtspunktes, und es ist zu befürchten, auch der Grundausbildung. Daß unser Rezensent eher geistes- als naturwissenschaftlich gebildet ist, zeigen zwei Merkmale: Sein Interesse für durchaus „nebulöse“ Theorien über dazugekommene Jahrhunderte in unserer Zeitrechnung (ihnen widmet er immerhin ein Fünftel seiner Rezension, obwohl jene Theorien mit unserem Thema nichts gemein haben), sowie seine Definition von wahrer „Wissenschaftlichkeit“, d.h., wie er sagt, „die kritische Reflexion über Status und Reichweite von […] Aussagen. Beides stellt in der Tat die „Schlagseite“ dieser vorwiegend positiven, wenn auch leider sich auf Nach-, Vorwort und Fazit beschränkenden Rezension dar.

Nicht, daß an der Chronologie-Kritik nicht etwas daran sein könnte, aber Hand aufs Herz, ob jene inkriminierten dunklen Jahrhunderte, in denen nichts geschah, außer den ohnehin bekannten Fälschungen der päpstlichen und kaiserlichen Kanzleien, existiert haben oder nicht, ist ein Streit um des Kaisers Bart: Ob in jenen Jahrhunderten nichts passierte außer Fälschungen, oder ob sie selbst nicht existent und Gegenstand der Fälschung waren, heißt das Problem nur anders zu formulieren. Fälschungen gab es jedenfalls, und massenhaft. Und warum sollte das, was später so gut gedieh, nicht früh gelernt gewesen sein? Warum sollen nur die Päpste und nicht auch die Kirchenväter gefälscht, warum die späteren Urkundenfälscher nicht ihre Meister, z.B. in den Evangelisten, gehabt haben? Es kann doch nicht angehen, daß wenn die Hinzudichtung von drei Jahrhunderten als exzessiv erscheint, daß man deswegen die jahrhundertewährenden, erwiesenen Fälschungen und Geschichtsverdrehungen einfach unter den Tisch kehrt. Und will man doch Chronologie-Fragen aufwerfen, dann wäre eigentlich in diesem Kontext interessanter hervorzuheben, daß nach unserer Entlarvung (cf. S. 369 f.) Dionysius Exiguus die Zeitrechnung ab Christi Geburt ein Jahrhundert zu spät angesetzt hat (Caesar demmnach 100 vor geboren), und daß dies das Motiv hätte liefern können für die Füllung der Lücke, für die nachträgliche Erfindung des verlorengegangenen Jahrhunderts, damit beide konkurrierenden Zeitrechnungen anno Domini – Divi Iulii vel Christi – in Einklang gebracht werden konnten.

Die „Wissenschaftlichkeit“ ist und bleibt für mich, als jemanden, der ursprünglich von den Naturwissenschaften kommt, etwas anderes als „die kritische Reflexion über Status und Reichweite von Aussagen“. Denn, um ein allgemein verständliches Beispiel zu nennen, der Satz des Pythagoras, wonach bei einem rechtwinkligem Dreieck das Quadrat der Hypotenuse der Summe jener der Katheten gleicht, gilt in der euklidischen Geometrie völlig unabhängig von jeder „kritischen Reflexion“. Er gilt sogar unabhängig jeder Beweisführung, wie das Beispiel der Ägypter zeigt, die ihn korrekt anwendeten, bei der Landvermessung und nicht zuletzt beim Pyramidenbau, obwohl sie nicht in der Lage waren, schon angesichts ihres beschränkten Zahlensystems, dessen Richtigkeit theoretisch nachzuweisen. Will damit sagen – ich muß mich leider wiederholen –, daß der Satz „Jesus ist der uns historisch erhaltene Divus Julius“ an sich stimmt (oder meinetwegen auch nicht), völlig unabhängig davon, wie unzulänglich meine Beweisführung, meine „Mittel und Methoden“, gewesen sein mögen und wie klug die „kritische Reflexion“ jener sein mag, die dessen Richtigkeit anzweifeln – verzweifelt anzweifeln. Den muß man einfach zur Kenntnis nehmen, aus dem simplen Grund, weil Logik und Mathematik keine Meinungssache sind. Zu einer einfachen Aufgabe der mathematischen Logik wird jener Satz dadurch, daß die festgestellten und bei fortschreitender Untersuchung sich weiter konstant herausstellenden Parallelen zwischen Jesus und Caesar zu inhärent sind, um sie noch der Zufälligkeit zuschreiben zu können: Jede weitere subsequente Parallele läßt nämlich die Wahrscheinlichkeit der Identität beider Personen exponentiell wachsen.

Dies gesagt, der Wunsch nach einer „Reflexion über die Reichweite dieser Erkenntnisse“ ist durchaus legitim. Wenn ich trotz wiederholter Aufforderung mich bis dato darüber nicht öffentlich äußern wollte, dann weil es unmöglich sein kann, daß Erkenntnisse verworfen oder akzeptiert werden, je nachdem ob einem ihre Implikationen passen oder nicht – denn darauf läuft unvermeidlich die „Reflexion über die Reichweite der Erkenntnisse“ hinaus. Das cui prodest, das als Motiv und Motor der Mutation Divus Julius > Jesus entlarvt wurde, kann jetzt nicht durch’s Fenster wieder ’reinkommen und Konditionen zur Aufnahme der es entlarvenden Erkenntnisse diktieren. Das wäre noch schöner!

Zwei Worte schließlich zum angeblich „verkaufsfördernden“ Titel und zur „Historizität Jesu“:
Titel und Untertitel sind Sache des Verlages, wie der Rezensent eigentlich weiß – und wie man an seiner eigenen Rezension ablesen kann, die ursprünglich noch ihren braven Arbeitstitel („War Caesar Jesus?“) trug und im Untertitel sachlich „Rezension“ hießt, jetzt aber in beiden Teilen eklatanter ausfällt. Jeder Verlag verspricht sich vom Titel, daß er „verkaufsfördernd“ ist. Ob im Fall dieses Buches der Titel es auch ist, darf man bezweifeln: Die Tatsache, daß der Rezensent ihn als marktschreierisch kritisiert, wäre an sich bereits Indiz genug dafür, daß das Gegenteil des Erhofften erreicht wurde. Insofern dürfte der um zu viel Verkauf besorgte Rezensent eigentlich ruhig schlafen.
Last but not least: Im zitierten Nachwort – „Eine andere Frage ist, ob sich mit den hier aufgewiesenen Ähnlichkeiten zwischen Caesar und Jesus die Historizität des letzteren bestreiten läßt“ – sagt Frau Simon zwar, daß die Historizität Jesu trotz der aufgewiesenen Ähnlichkeiten mit Caesar unbestreitbar bleibt. Was sie aber unter Historizität versteht, verdeutlicht sie im nächsten Satz: „Obwohl sich die Konstantinische Schenkung als Fälschung herausgestellt hat, ist der auf ihr beruhende Kirchenstaat durch viele Jahrhunderte hin geschichtliche Wirklichkeit gewesen“. Mutatis mutandis heißt das: „Obwohl sich das Evangelium nun seinerseits als eine Verstellung herausstellt, ist der auf ihm beruhenden Christentum durch viele Jahrhunderte hin geschichtliche Wirklichkeit gewesen“. Die Historizität Jesu ist ab sofort nicht mehr jene eines nebulösen Barfußpropheten aus Galiläa, sondern die Historizität seines jahrtausendlangen Kultes. Historizität, die niemand in Frage stellen kann und will, und der durch die nun erfolgte Rückführung auf den Kult des Divus Julius die reelle und glaubwürdige historische Wiege restituiert wird.



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